11
Jan
2009

Der Feigebaum

„Sieh doch, mein Kind“, sprach die weise Großmutter eines Morgens mit gleichermaßen liebe- wie sorgenvoller Miene zu ihrer aufmüpfigen Enkelin, „in unserem kleinen Garten wachsen die süßesten Feigen, sie fallen schon fast vom Baum, so reif sind sie. Pflücke sie, solange es noch an der Zeit ist, denn keiner weiß, wann der Baum wieder so wunderbare Früchte trägt!“
„Ja, Großmutter, ja doch!“ entgegnete die aufmüpfige Enkelin in fieberhafter Eile, zog sich noch einmal die geringelten Kniestrümpfe straff und rannte wie besessen aus dem alten Haus. Erst am späten Abend kehrte sie wieder aus dem dunklen Wald zurück, in dem sie immer umherstreunte, völlig erschöpft, mit blutig aufgeschlagenen Knien und ein paar schmutzigen Eicheln in ihren kleinen rissigen Händen. Wie jeden Abend legte sie ihre Beute in die kleine Schublade zu den anderen Eicheln und fiel dann müde und dreckig, wie sie war, in ihr Bettchen, wo sie die Erschöpfung schon bald in einen unruhigen und fiebrigen Schlaf gleiten ließ.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, erfüllte sich die Prophezeiung der weisen Großmutter, und der Feigenbaum im Garten trug keine einzige Frucht mehr. Nur die Großmutter lag leblos, mit liebevoll besorgter Mine unter dem Baum und hielt noch eine letzte Frucht in den kalten, vom ewigen Schlaf erstarrten Greisenhänden, und als dann die Tränen der Reue aus den Augen der Aufmüpfigen zu schießen begannen, und sie noch einmal nach den so vertrauten Händen der Großmutter griff, bemerkte sie, wie die Feige ein wenig zu pulsieren anfing, zunächst ganz zaghaft nur, langsam und sehr leise, dann etwas schneller und regelmäßiger, um dann immer stärker und kräftiger zu pochen, so als trüge sie das Leben noch ein allerletztes Mal zur Schau. Dann aber – mit einem Ruck der Verzweiflung – erstarrte auch diese letzte Frucht und folgte der alten Frau in ihren ewigen, friedvollen Schlummer.

26
Dez
2008

Armes Kind

Du, ein Blau
mit Armen,
ein Rückschnitt
von linierten Haaren,
die schon lange nicht mehr glänzen.

Du, ein Kind,
das den Rücken zukehrt,
um wie eine Qualle umherzudriften,
sich ständig selbst abbildend und sich schön findend
in der eigenen Zahnspangenhässlichkeit.

Du, umgeben von Plakativem,
von wilden Farben, wabernden Formen und flirrenden Worten ohne Rückgrat, pastellverschwommene Haltlosigkeit im Kaleidoskop der eigenen Ängste, butterweiche Aggression, die Stimme hochgeterzt, wispernd, hilflos vertuschend die Untiefen der eigenen Schamesröte.

Du, ein armes Kind.

Selbstbekenntnis

im plutonischen zirkel

schleife, zerreibe, zerstöre!
nimm das was ist
und nimm keine rücksicht
die sehnsucht nach zerlegung
führt dich -
alles weg, neues schaffen!
neu die leere füllen,
dein inneres regierend und
wie einen knüppel um sich schleudernd,
bis du hängen bleibst am nächsten
hindernis, dich darin verwächst,
um es schon bald von innen zu sprengen
und weiter deine kreise zu ziehen -
ohne ziel,
gefangen
im plutonischen zirkel.

(Ein lyrischer Beitrag, verfasst von "Anatolda", ursprünglich gepostet auf http://kreativ.lilith-band.de, übernommen mit freundlicher Genehmigung der Autorin, die hiermit die Problematik der Ausweglosigkeit krankhafter Zerstörungswut sehr klar zum Ausdruck bringt.)

17
Dez
2008

angst

angst,
siebenmal angst,
siebenhundert ängste
siebentausendfach gespiegelt
im kaleidoskop der eigenen seele.

angst,
siebenmal angst,
siebenhundert ängste
siebentausendfach verdrängt
siebentausendfach – undeinmalzuviel.

15
Dez
2008

Der Kapitän

Man muss stets acht geben auf die Menschen mit den großen Köpfen, sie sind sehr kostbare Fracht. Wenn ich sie alleine lasse, irren sie wie die Kinder auf dem Deck herum, schwenken ihre riesigen Häupter mit dem Wind und stolpern orientierungslos von Hindernis zu Hindernis immer auf der Suche nach irgendeinem Halt. Ihre zarten Körper biegen sich unter der Last ihrer massigen Köpfe und manchmal, wenn ein Sturm aufzieht und die Wellen an die Schiffswände peitschen, muss ich ganz besonders achtsam sein.
Dann muss ich das Steuerrad für einen Moment aus der Hand geben, um auf das Deck hinabzusteigen. Ich muss ein langes Seil holen und die Menschen mit den großen Köpfen einsammeln, sie zusammentreiben und mit dem Seil aneinander binden. Sie werden heftig protestieren, ihre übergroßen Köpfe aufgeregt hin und her schwenken und etwas von "Recht" und "Freiheit" in den Wind kreischen, dann werden sich ihre schwachen Körper dennoch ergeben müssen und ausharren, bis der Sturm vorbei ist und ich sie wieder von ihren Fesseln befreien kann. So ist es bisher immer geschehen.
Vor einiger Zeit jedoch war ich nicht achtsam genug. Als der Himmel sich verdunkelte und die Menschen mit den Riesenhäuptern hektisch und sehr aufgeregt auf dem schmalen Deck hin und her rannten, entwischte mir ein ganz besonders verwirrtes Exemplar von ihnen und stolperte völlig orientierungslos in Richtung Steuerbord, geradewegs auf die Reling zu. Ich schrie ihm noch hinterher, als ich den Rest der protestierenden und kreischenden Menge zusammenband, doch vergeblich, mein Rufen verlor sich im Tosen des herannahenden Sturmes. Ich konnte nur noch zusehen, wie das arme Menschlein an die Reling stolperte - seine Riesenaugen starrten ein allerletztes Mal entsetzt und hilflos zu mir herüber -, dann, langsam, mit einer seltsamen Art von elastischer Eleganz kippte es über die Reling und stürzte mit seinem viel zu großen Kopf vornüber in die kalt wütende See.
Tagelang war es sehr still an Bord.

13
Dez
2008

:

auf und zu.
auf zu
neuen ufern
und
. (punkt)

hin und weg!
hinweg
den ballast
und
! (ja)

ab und zu?
ab zu
dir
und
? (dann)

10
Dez
2008

Manchmal weine ich nicht

Manchmal weine ich nicht.

Dann trippelt wieder ein kreuzbraver Köter
dreibeinig auf der heißen Laterne,
lacht, verdreht sich, kotzt das kleine, glimmende Lämpchen aus.

Dahinter verbirgt ein riesiges Kind das kantige Mondgesicht,
spielt zuckend mit seinem tiefblauen Darm,
kneift sich, schreit, verschlingt sich im eigenen Blau.

Ein gewaltiger Tropfen rinnt durch die glutrote Nacht,
singend, tanzend, zerschlägt die Macht der Kulisse
und begräbt mein schrilles Pochen im Salz der ewigen Zeit.

Manchmal weine ich nicht.
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Silberdisteleien

Die Lust an der Ästhetik des Störrischen

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